Ein Erfahrungsbericht
Angenommen Ihre Lieblingstasse, seit Jahren gehegt und gepflegt, weil für Sie viele liebevolle Erinnerungen daran hängen, geht plötzlich kaputt. Sie sammeln die Scherben ein, kaufen Spezialkleber und versuchen sie immer wieder zu reparieren, zu kitten.
Aber egal, wie sehr Sie sich auch anstrengen, wie viel Mühe Sie sich auch geben, sie wird nie wieder so aussehen wie vorher. Die Tasse hat Risse, es fehlen kleine Stücke und sie ist noch zerbrechlicher als vorher.
Nach der Diagnose „Kind mit Behinderung“ zerbricht bei den meisten die ursprüngliche Lebensplanung. Genau so war das auch bei mir.
Und dann habe ich mich jahrelang so sehr angestrengt……… bis ich plötzlich keine Luft mehr bekam. Zunächst wusste ich überhaupt nicht, was mit mir passierte. Doch irgendwann, nach einigen Arztbesuchen, war mir klar, es sind Panikattacken. „Erst mal ignorieren“ war meine Devise, „das wird schon wieder“. Denn wie so viele aus meiner Generation bin ich sehr leistungsorientiert erzogen worden. Mit der Einstellung: „Augen zu und durch“, „Stell dich nicht so an“, oder „Früher haben das alle anderen auch geschafft“ bin ich groß geworden. Zum Psychiater oder Psychologen geht man nicht, das ist alles nur so eine Modeerscheinung.
Also strengte ich mich noch mehr an, das Leben mit seinen besonderen Herausforderungen zu meistern, so hatte ich das ja schließlich gelernt. Arbeiten, Haushalt, Therapien, Bürokratie, Kinder – Sie kennen das ja alles. Um allem gerecht zu werden reduzierte ich, wie es viele Mütter von Kindern mit Behinderung machen, meine Arbeit, die ich immer so geliebt hatte, auf ein Minimum.
Als unser Sohn dann in Richtung Pubertät immer schwierigeres Verhalten aufwies, aggressiv uns gegenüber wurde und ein Schulausschluss drohte, ging es dann überhaupt nicht mehr. Die Anfälle kamen immer häufiger, im Supermarkt beim Einkaufen, im Kino, überall. Herzrasen, Schwindel, Atemnot, das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen war auf einmal jederzeit möglich, unvorhersehbar, unplanbar.
Und das passierte mir – der Person, die immer alles auf die Reihe bekommen hat, selbständige erfolgreiche Geschäftsfrau, hochgradig belastbar und leistungsstark – alles unter Kontrolle sozusagen.
Ich hatte nichts mehr im Griff, konnte den Zustand nicht steuern oder beeinflussen, das war für mich so unfassbar und wirklich kaum zu ertragen. Das Gefühl allem hilflos ausgeliefert zu sein, die ständige Angst keine Luft mehr zu bekommen. Jetzt hatte sie mein Leben im Griff.
Resignieren war für mich keine Option!
Ich wollte unbedingt mein altes Leben zurück. Mittlerweile weiß ich: Unser Körper ist schlau, sehr schlau! Er sendet schon Jahre vorher Alarmsignale. Ich hatte natürlich all die Jahre vorher sämtliche Warnzeichen ignoriert und einfach weitergemacht (im Nachhinein weiß ich das).
Psychopharmaka, welche mir von einer Hausärztin angeboten wurden, lehnte ich ab. Für mich war das keine Option, aber ich denke für den einen oder die andere kann man es wahrscheinlich in Akutsituationen nicht ausschließen. Ich suchte mir eine Therapeutin – übrigens so ziemlich das Beste, was mir in all diesen Jahren passiert ist – und begann eine Verhaltenstherapie.
Meine ganze Familie hat mittlerweile professionelle Unterstützung, denn auch für Geschwisterkinder und Väter kann das sehr hilfreich sein. JedeR muss schließlich mit der dauerhaften Belastung und Sondersituation zurechtkommen. Für uns kann ich sagen: Das Leben wurde dadurch deutlich leichter.
Mit der Zeit wurde mir folgendes klar:
Stellen Sie sich eine Regentonne vor – sie nimmt immer Wasser auf (Belastung), wenn man aber nie abschöpft (Entlastung), läuft das Fass irgendwann über. Zusätzlich wird jedem in der Kindheit ein Rucksack mitgegeben, der unterschiedlich groß ist, was auch noch eine Rolle spielt. Meiner war übrigens schon seit dem Kleinkindalter ziemlich groß.
Deswegen achte ich jetzt viel mehr auf mich und passe auf, dass in der Regentonne immer etwas Platz ist, denn sie treffen uns, die Unwetter im Leben und man weiß nie, wann das nächste kommt.
Ich verbringe mehr Zeit mit meinen Hobbys, Bewegung in der Natur und achte auf gesunde Ernährung, weil ich weiß, dass mir das guttut. Das gelingt mir nicht immer, aber immer öfter.
Die Angst ist weiterhin vorhanden. Ich habe gelernt, mit ihr umzugehen, indem ich sie akzeptiere. Sie ist ein Teil von mir und hilft mir mit ihren Warnzeichen. Diese ignoriere ich nicht mehr und wenn notwendig, kann ich mich aus meinem neuen Werkzeugkoffer bedienen. Darin befinden sich Techniken und Strategien, die ich in der Therapie gelernt habe. Das alles hilft mir stressige Zeiten gut zu überstehen.
Dafür bin ich sehr dankbar.
Seit zwei Jahren hatte ich keine Panikattacke mehr – man kann es, wenn man es angeht, wirklich sehr gut behandeln.
Mein Leben sieht nun komplett anders aus. Es ist schön, aber völlig anders als es ich es mir je vorgestellt hatte.
Der Bekanntenkreis hat sich verändert und ich habe viele neue Menschen kennengelernt, die mich all die Jahre immer sehr unterstützt haben.
Im Berufsleben bin ich jetzt in einem völlig neuen Bereich tätig. Das erfüllt mich sehr und gibt mir auch viel Kraft.
Alles schaffe ich jedoch immer noch nicht. Weite Urlaubsreisen wie früher sind für mich noch unvorstellbar. Aber irgendwann? ……
Meine Tasse versuche ich nicht mehr zu kitten, sie ist jetzt ein Kerzenhalter für ein Teelicht, den ich
bunt verziert habe. Immer noch zerbrechlich, völlig andere Funktion als vorher, aber auch sehr schön!
Vanessa Hauptmann