Freie Zeit mit besonderen Geschwistern

Natürlich geht es unter Brüdern und Schwestern nicht immer friedlich zu, schon gar nicht in der Freizeit. Geschwister mit Behinderungen fordern oft von der ganzen Familie noch ein bisschen mehr Rücksichten. Hier haben fünf erwachsene Geschwister aufgeschrieben, wie für sie die Freizeitgestaltung mit ihren Brüdern oder Schwestern mit Behinderung in der Kindheit war, was sie schätzen gelernt haben und welche gemeinsamen Interessen sie heute noch verbindet.

Monster jagen mit meinem Bruder
Monster Hunter ist eine japanische Action Role Playing Game Reihe, welche ich (25 Jahre alt) seitdem ich 13 bin, spiele. Mein erstes Spiel bekam ich zu Weihnachten und damals hatte ich große Probleme, mich mit dem Spielkonzept anzufreunden. Es war deutlich komplizierter und unfreundlicher für Einsteiger als alle anderen Videospiele, die ich bis zu diesem Zeitpunkt gespielt hatte. Das Grundprinzip ist eigentlich relativ simpel. Man erstellt einen Charakter und kämpft mit einer Auswahl von fantastischen und überdimensionalen Waffen gegen gigantische Monster, welche das Dorf angreifen oder auf anderen Wegen das Leben der Dorfbewohner gefährden.
Doch die Schwierigkeit des Spieles steht im Kontrast zum simplen Spielkonzept.
Es gibt keine besonderen Fähigkeiten oder, wie es in anderen Spielen üblich ist, Fähigkeitspunkte, welche einen über den Verlauf des Spiels stärker werden lassen. Aus den erlegten Monstern und den Gebieten, in welchen diese sich herumtreiben, gewinnt man Materialien, mit denen man seine Rüstung und Waffen aufwertet. Und mehr Hilfe bekommt man von dem Spiel nicht. Um also in dem Spiel voranzuschreiten, muss man besser werden und stärkere Monster erjagen. Man muss verstehen, wie die Monster sich bewegen und angreifen, wo ihre Schwachpunkte liegen und welche Waffen gegen sie effektiv sind. Kurz gesagt, man muss ein besserer Jäger werden.
Mein zweieinhalb Jahre jüngerer Bruder Severin, er hat eine leichte geistige Behinderung, war von Anfang an sehr interessiert an dem Spiel. Er wollte immer zuschauen, stellte mir Fragen bezüglich der verschiedenen Monster und wollte alles Mögliche über das Spiel wissen. Auf Auto- oder Zugfahrten wollte er also immer neben mir sitzen und zuschauen, wie ich einen riesigen Feuerdrachen oder eine elektrisch geladene Wyvern in der Größenordnung eines Blauwahljungen mit meinem zwei Meter langen Katana (japanisches Langschwert) jagte.
Dann bekam er vor ein paar Jahren die Nintendo Switch, die neueste Konsole von dem Spielekonzern Nintendo. Und im Jahr 2020 kam die neueste Installation des Monster Hunter Franchises heraus: Monster Hunter Rise.
Ich hatte mich bereits mit dem Spiel befasst und daraus geschlossen, dass dieses Spiel wohl deutlich einsteigerfreundlicher sein würde als seine Vorgänger. Dazu kam, dass es einen Online-Mehrspielermodus unterstützen würde. Natürlich hatte ich das Erscheinungsdatum dick in meinem Kalender notiert und wie es so kam, lag es nicht lange nach Severins Geburtstag. Also entschied ich mich kurzerhand, ihm das Spiel zu schenken.
In der Woche der Veröffentlichung saßen Severin und ich dann knapp 600 Kilometer voneinander entfernt vor unseren Konsolen und begannen unsere gemeinsame Jagd. Und er überraschte mich mit einer unglaublichen Resilienz bezüglich eines der frustrierenden Hindernisse in dem Spiel: dem Verlieren.
Wie in fast allen Videospielen hat der Charakter einen Lebensbalken. Sinkt dieser auf 0, wird man zurück zum Camp geschickt. Passiert dies dreimal, gilt die Mission als gescheitert und man wird zurück ins Dorf geschickt. Und man stirbt am Anfang die ganze Zeit. Dieser Aspekt hatte mich, als ich anfing mit der Spielereihe häufig in den Wahnsinn getrieben und oft zum Aufgeben gebracht, nur damit ich ein paar Wochen später wieder zähneknirschend von neuem begann. Doch Severin schien das nicht zu stören. Er ist sonst nicht besonders resistent gegenüber Frustration, sobald er merkt, dass er etwas nicht gut kann oder etwas schwer ist. Hier war er jedoch absolut unbeeindruckt von der Herausforderung, die ihm von dem Spiel an den Kopf geworfen wurde. Er spielte immer weiter, auch ohne meine Unterstützung, und schritt mit beeindruckender Geschwindigkeit durch die Missionen.
Und selbst eineinhalb Jahre später treffen wir uns immer noch in der virtuellen Welt von Monster Hunter, während wir über unsere Telefone miteinander reden, jagen wir immer schwerer werdende Monster, verbessern unsere Waffen und Rüstungen und quatschen über dies und jenes. Die letzten Shows, die wir gesehen haben, Bücher, die wir gerade lesen oder wie sein Umzug in eine Wohngruppe der Lebenshilfe gelaufen ist. Wir machen Witze und reden über ernste Themen, wie Frustration mit der Arbeit oder Kollegen. Bevor wir angefangen haben, gemeinsam zu spielen, haben wir deutlich seltener miteinander geredet, da wir ja so weit voneinander entfernt wohnen und uns selten die Zeit genommen haben, länger miteinander zu telefonieren. Jetzt teilen wir ein Hobby miteinander, während wir gemütlich in unseren Zimmern, in verschiedenen Ecken von Deutschland sitzen. Alles in allem hat uns diese Erfahrung im Geiste wieder näher zusammengebracht, nachdem wir uns körperlich so weit voneinander entfernt haben.
Und ich mache mir keine Sorgen, dass das Spiel eines Tages sein Interesse verlieren wird, denn wir haben bereits andere Spiele angefangen und planen auch neue zusammen anzufangen.
Letztendlich bin ich froh, dass meine Eltern mir damals dieses japanische Videospiel schenkten, welches mich in regelmäßigen Abständen beinahe in den Wahnsinn trieb und welches es schaffte nur mit seiner ausgefallenen Optik das Interesse meines Bruders zu ergreifen und so, über zehn Jahre später für unsere gemeinsamen Spieleabende sorgt.

Johann


Urlaub mit meiner Schwester
„Judith war und ist für mich die Verteidigerin der genusshaften Freiheit! Urlaub in unserer Kindheit hieß auch immer: Freizeitstress. Jede Kirche musste besucht werden, kein Museum durfte ausgelassen werden. Wandern, Ausflüge, der reinste Freizeitstress.

Judith ist bis heute an meiner Seite und verteidigt unser Recht auf Faulheit im Urlaub! Standhaft kämpfen wir Seit` an Seit` gegen unsere hyperaktiven Eltern, die teilweise um sieben Uhr in der Früh aufstehen wollen, um irgendwelche Sehenswürdigkeiten zu sehen.

Nicht mit uns! Einem allein fehlt die Kraft und Autorität, sich durchzusetzen. Doch zusammen sind wir stark und stehen ein für unser Recht auf Faulheit im Urlaub: Ausschlafen, Kaffee trinken, Frühstücken, gemütlich am Pool chillen, Mittagessen, Aperol trinken. So geht Freizeit. So und nicht anders!

Auf viele weitere Urlaube, in denen wir unseren Eltern beibringen, was `Carpe diem` wirklich bedeutet.“

Thaddäus


Aufwachsen mit meinem Bruder
Mit meinen zwei jüngeren Brüdern aufzuwachsen war immer ein bisschen besonders. Nicht nur weil der eine mit einer Behinderung geboren wurde, sondern vielmehr, weil wir alle drei sehr verschieden sind. Während der eine in Gruppen immer erst „auftauen“ musste und sich still im Hintergrund verhielt, rannte der andere mit Karacho ins Rampenlicht, fand trotz seiner Einschränkungen immer überall Anschluss und beeindruckt mich bis heute mit seiner unerschütterlich positiven Art. Drei Teenager in einem Haushalt, alle mit völlig unterschiedlichen Bedürfnissen und einer angeborenen lauten Stimme – natürlich geht das meistens schief: Irgendjemand will immer irgendetwas nicht. Sei es Essen, eine Ausflugsdestination oder einfach gemeinsam beisammensitzen. Während mein jüngster Bruder und ich aus der besonders sturköpfigen Phase langsam rausgewachsen sind, lebt der mittlere diese auch noch mit seinen zwanzig Jahren in vollen Zügen aus. Das ist oft nervig, manchmal zum Haare raufen aber meistens ziemlich normal. Er nimmt sich eben für alles seine Zeit, auch für die Pubertät. Und das ist doch wirklich liebenswert.

Tomke


Trick 17
Wichtig für unsere möglichen Freizeitaktivitäten war, dass auch mein Bruder Matthias mitmachen konnte. Eigentlich ist er eher ein bequemer, gemächlicher Typ. Aber schwimmen, in den Bergen wanden (und einkehren), das ging. Er lernte auch relativ früh Fahrradfahren, allerdings waren längere Touren eher mühsam. Häufig musste er anhalten, weil ihm etwas nicht ganz geheuer war oder weil er keine Lust hatte, sich immer weiter anzustrengen. Da kauften meine Eltern ein Tandem und nun kamen wir wieder voran und konnten auch weiter entfernt liegende Ziele erreichen.
Meistens saß Matthias gemütlich hinter seinem Vater, ließ ihn die ganze Arbeit machen und trat ab und zu auch mal aufs Pedal, wenn er gerade Lust dazu hatte. Wunderbar motivieren konnte ich ihn allerdings mit der Aussicht auf ein Wettrennen, mit der Drohung, ihn zu überholen oder mit der Behauptung, dass er es niemals schaffen würde, mich zu überholen. Plötzlich taten seine Beine nicht mehr weh, er strampelte mit voller Kraft und war stolz wie ein Schneekönig, wenn das Tandem schneller vorankam als ich.
Eine Zeit lang wirkte auch ein Verbot. Wenn man sagt: „Matthias, du darfst nicht treten/ nicht den Tisch decken/ nicht das Lego aufräumen,…“ gab es für ihn nichts Schöneres als triumphierend genau das Verbotene zu tun und sich dabei köstlich zu amüsieren.

Christian


Wat den een sin uhl ist den annern sin nachtigall
(plattdeutsch: Was dem einen seine Eule, ist für den anderen seine Nachtigall)

Ja, es ist schön, wenn ein Mensch ein Hobby hat und sich selbst beschäftigen kann. Aber muss das unbedingt so laut sein? Mein Bruder Matthias hatte schon immer ein Faible für Musik und natürlich war meine Mutter begeistert und hat es „gefördert“. Immer hatte er verschiedenste Instrumente, die er mit Inbrunst – und mit unterschiedlichstem Erfolg –spielte. Kinderklavier- und klarinette gingen noch, auch das Flöten war erträglich, denn inzwischen hatte er die Noten dafür gelernt und spielte kleine Lieder. Aber dann kamen die Trommeln! Kleine Handtrommeln, Bongos, afrikanische Djembe, er war voll unglaublicher Ausdauer, Elan und Begeisterung. Manchmal waren die Trommeln die Begleitung zu einer Kassette, manchmal Soloinstrument. Es war ein Wunder, dass ihm nicht die Hände den Dienst versagten. Nun muss man wissen, dass mein Kinderzimmer an das seine grenzte. Ja, es ist schön, wenn ein Mensch ein Hobby hat, aber es gibt doch auch leise Hobbys, stricken oder puzzeln z.B. machen gar kein Geräusch.

Elisabeth

© Lebenshilfe München e.V.

Weitere Beiträge

Einzug in eine inklusive Wohngemeinschaft

Der Alltag nahm allmählich wieder Fahrt auf, nachdem die entschleunigte Zeit zwischen dem Weihnachtsfest und dem 3-Königs-Tag gerade zu Ende gegangen war.

Mehr erfahren
Leben mit der Angst

Angenommen Ihre Lieblingstasse, seit Jahren gehegt und gepflegt, weil für Sie viele liebevolle Erinnerungen daran hängen, geht plötzlich kaputt. Sie sammeln die Scherben ein, kaufen Spezialkleber und versuchen sie immer wieder zu reparieren, zu kitten.

Mehr erfahren
Vom selbstbestimmten Weglassen ungesunder Nahrung.

An einem Sonntagmorgen bleiben die Eltern im Bett und Max* läuft zum ersten Mal mit einem Geldbetrag allein zum Bäcker um die Ecke, um die Sonntagsbrötchen zu holen.

Mehr erfahren