Als Mutter eines erwachsenen Sohnes mit geistiger Behinderung und Autismus war ich über viele Jahre hinweg mit Situationen konfrontiert, die ich schwer einordnen konnte. Trotz seiner altersgemäßen körperlichen Entwicklung und seiner grundsätzlich stabilen Lebenssituation traten immer wieder Verhaltensweisen auf, die mich ratlos machten: plötzliche Überforderung in alltäglichen Situationen, emotionale Ausbrüche und herausfordernde Verhaltensweisen. Oft hatte ich den Eindruck, er wäre kognitiv in der Lage bestimmte Dinge zu tun, er macht es jedoch nicht, da diese Aufgaben ihn stark überfordern. Erst durch die SEED-Testung wurde mir klar, dass diese Verhaltensweisen in einem tieferliegenden Zusammenhang mit seiner emotionalen Entwicklung stehen.
Was ist die SEED-Testung?
SEED steht für Skala der emotionalen Entwicklung bei Menschen mit geistiger Behinderung Es handelt sich um ein standardisiertes diagnostisches Verfahren, das ursprünglich in den Niederlanden entwickelt und seit etwa 2010 auch im deutschsprachigen Raum zunehmend eingesetzt wird – insbesondere in Einrichtungen der Behindertenhilfe.
Ziel der SEED-Testung ist es, den emotionalen Entwicklungsstand von Menschen mit geistiger Behinderung systematisch zu erfassen – unabhängig von ihrem chronologischen Alter oder intellektuellen Leistungsniveau. Denn emotionale Reife entwickelt sich nicht zwangsläufig parallel zur kognitiven Entwicklung.
Was genau wird mit SEED getestet?
Die SEED-Testung basiert auf der Annahme, dass sich emotionale Entwicklung in mehreren Stufen vollzieht – ähnlich der frühkindlichen Entwicklung. Das Instrument umfasst acht zentrale Lebensbereiche, in denen der aktuelle Entwicklungsstand anhand konkreter Verhaltensbeobachtungen und 200 binären (Ja-Nein) Items eingeschätzt wird:
- Umgang mit dem eigenen Körper
- Umgang mit Bezugspersonen
- Umgang mit Umgebungsveränderung – Objektpermanenz
- Emotionsdifferenzierung
- Umgang mit Peers (Gleichrangigen)
- Umgang mit der materiellen Welt
- Kommunikation
- Affektregulation
Die Einschätzung erfolgt in einem strukturierten Gespräch zwischen geschulten Fachkräften und Personen, die den betroffenen Menschen gut kennen – z. B. Angehörige, Mitarbeitende aus Wohn- oder Arbeitsbereichen.
Ein praktisches Beispiel: Unser Erfahrungsbericht
Im Wohnheim unseres Sohnes wurde uns angeboten, an einer SEED-Testung teilzunehmen. Ich stimmte sofort zu – hatte ich doch schon einiges davon gehört. Das Ergebnis verblüffte nicht nur mich. Mein Eindruck – die permanente Überforderung unseres Sohnes – wurde bestätigt.
Die Testung ergab, dass unser Sohn, obwohl körperlich erwachsen, emotional überwiegend auf dem Stand eines Kindes im Alter von etwa vier bis sieben Jahren ist, sprachlich aber das Alter eines Acht- bis Zwölfjährigen aufweist. Viele seiner Reaktionen wurden dadurch nachvollziehbar: sein Bedürfnis nach starker Struktur, seine geringe Frustrationstoleranz oder seine Fixierung auf einzelne Bezugspersonen.
Dank dieser Erkenntnisse konnten Alltag und Betreuung jetzt gezielter angepasst werden und das jahrelange Dilemma zwischen kognitiven Fähigkeiten und der Nichterfüllung von Aufgaben war nun mit emotionaler Überforderung erklärbar. Immer wenn ich jetzt ein Verhalten bei meinem erwachsenen Sohn nicht verstehe, überlege ich mir, wie ich wohl bei einem Erstklässler reagieren würde.
Das Ergebnis ist nicht spektakulär im Sinne „plötzlicher Fortschritte“ – aber spürbar: mehr Stabilität, weniger Überforderung, und das Wichtigste: mehr Lebensqualität für alle.
Vorteile der SEED-Testung
Für Eltern und Angehörige:
- Realistische Einschätzung des emotionalen Entwicklungsstandes ihres Kindes
- Erleichterung im Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen
- Vermeidung unrealistischer Erwartungen, die zu Frust auf beiden Seiten führen können
- Bessere Zusammenarbeit mit Fachkräften, da alle Beteiligten dieselbe Grundlage nutzen
Für Fachkräfte in Einrichtungen:
- Individuelle Förderplanung auf Basis emotionaler Entwicklungsstufen
- Verbesserte Kommunikation im Team, durch einheitliche Bezugssysteme
- Frühzeitiges Erkennen von Entwicklungsbedarfen
- Reduktion von Verhaltensauffälligkeiten durch angepasste pädagogische Maßnahmen
Die sechs emotionalen Entwicklungsphasen nach SEED
Die SEED-Testung ordnet die emotionale Entwicklung in sechs aufeinander aufbauende Phasen, die typischerweise mit bestimmten Lebensaltersbereichen bei Kindern vergleichbar sind. Dabei ist wichtig: Menschen mit geistiger Behinderung können auf unterschiedlichen Stufen stehen – unabhängig von ihrem biologischen Alter oder ihrem kognitiven Entwicklungsstand.
Warum diese Phasen wichtig sind
Für Eltern wie für Fachkräfte ist es entscheidend zu verstehen, in welcher dieser Phasen sich ein Mensch aktuell befindet, um Überforderungen zu vermeiden und gezielte Förderung zu ermöglichen. Menschen mit geistiger Behinderung können in unterschiedlichen Lebensbereichen auf verschiedenen Stufen stehen – etwa in sozialen Beziehungen auf Stufe 2, aber im Spielverhalten auf Stufe 4. Genau hier setzt die differenzierte Betrachtung der SEED-Testung an.
| Entwicklungsphasen,- alter,-schritte und-ziele | |||
| Emotionale Entwicklungsphase | Emotionales Referenzalter | Entwicklungsschritte | Entwicklungsziele |
| 1 Adaption | 1. bis 6. Monat | Integration von sensorischen Stimuli und äußeren Strukturen (Ort, Zeit und Menschen) Urvertrauen | Reizverarbeitung, Regulation körperlicher Vorgänge |
| 2 Sozialisation | 7. bis 18. Monat | Soziale Bindungen, Bildung einer Vertrauensbasis, Entwicklung von Objektpermanenz | Bindungsbeziehungen entwickeln, Objektpermanenz, grobes Körperschema |
| 3 Erste Individuation | 19. bis 36. Monat | Erkenne und Äußern des eigenen Willens | Ich- Du – Differenzierung, sicherer Bindungsstil, Autonomie |
| 4 Identifikation | 4. bis 7. Lebensjahr | Ich- Bildung, Perspektivenwechsel, Unterscheidung Fantasie/ Realität | Theory of Mind, Interaktion mIt Gleichaltrigen |
| 5 Beginnendes Realitätsbewusstsein | 8. bis 12. Lebensjahr | Einschätzen der eigenen Fähigkeiten, Ursache- Wirkungs- Zusammenhänge | Ich- Differenzierung, Realitätsbewusstsein, logisches Denken |
| 6 Zweite Individuation | 13. bis 18. Lebensjahr | Abstraktionsfähigkeit, sexuelle Identität, Selbstreflexion, Selbstständigkeit, Verantwortung, Identitätsfindung in der Peergroup | Moralisches Handeln, Identitätsbildung, selbstständiges, planvolles und eigenverantwortliches Handeln |
Quelle: Das Alter der Gefühle von Tanja Sappok und Sabine Zepperitz, hogrefe Verlag
Hinweis: Die SEED-Testung wird von einigen Einrichtungen der Behindertenhilfe angeboten. Eine Durchführung sollte ausschließlich durch geschulte Fachkräfte erfolgen, idealerweise im interdisziplinären Austausch mit Eltern und Betreuungspersonal.
Fazit
Die SEED-Testung hat mir geholfen, unseren Sohn nicht über seine Fähigkeiten hinaus zu fordern – aber auch nicht zu unterschätzen. Sie hat nicht seine Defizite betont, sondern gezeigt, was er braucht, um sich sicher und verstanden zu fühlen. Die Einteilung in sechs emotionale Entwicklungsphasen ermöglicht eine gezielte, personenzentrierte Unterstützung, die sich an den tatsächlichen Bedürfnissen orientiert – nicht am biologischen Alter.
Das ist ein Perspektivwechsel, der sowohl in der Familie als auch in der professionellen Betreuung wertvoll ist.
Die SEED-Testung bietet nicht nur eine Momentaufnahme, sondern einen umfassenden Entwicklungsrahmen.
Ich empfehle jedem Elternteil eines Menschen mit geistiger Behinderung, sich mit diesem Instrument auseinanderzusetzen.



