Der Alltag nahm allmählich wieder Fahrt auf, nachdem die entschleunigte Zeit zwischen dem Weihnachtsfest und dem 3-Königs-Tag gerade zu Ende gegangen war. Bei einer heißen Tasse Frühstücks-Kaffee überflog ich meine E-Mails, die ich in den letzten 2 Wochen sträflich vernachlässigte.
Unsere Tochter stand zu diesem Zeitpunkt schon einige Zeit auf den Wartelisten für Wohnplätze einiger Einrichtungen. Die Wartelisten sind lang, sehr lang. Deshalb rechneten wir uns kaum Chancen aus, aber um ehrlich zu sein: Wir genossen unser Familienleben mit unserer Tochter intensiv, so dass das Thema für uns noch keine besondere Priorität hatte. Viele unserer Freunde, deren Kinder bereits ausgezogen waren, beklagten das „Empty-Nest-Syndrom“. Und gerade Eltern von Kindern mit Behinderung sind davon besonders betroffen, da deren Lebensinhalt über Jahrzehnte stark auf den Alltag der (inzwischen erwachsenen) Kinder ausgerichtet ist.
Auch deshalb verloren wir die Wohnplatz-Wartelisten-Situation gerne und schnell wieder aus den Augen … bis zu diesem Tag im Januar:
„Die“ E-Mail
Eine stattliche Anzahl ungelesener Mails hatte sich mittlerweile angesammelt. Trotz der Menge an Nachrichten stach mir ein Betreff sofort ins Auge „Kick-Off Veranstaltung IWG“, Absender: „Lebenshilfe“. Bei näherer Betrachtung begann mein Herz kräftiger zu schlagen, und ja, ich hatte richtig vermutet: Es war eine Einladung zu einem ersten Treffen potenzieller Mitbewohner*innen für eine neuzugründende IWG gemeinsam mit deren Eltern und der Lebenshilfe. Ab diesem Zeitpunkt stand bei uns wirklich kein Stein mehr auf dem anderen.
Entscheidung
Der Kick-Off-Kennenlern-Termin verlief für alle Beteiligten positiv und tatsächlich folgte im Anschluss daran ein konkretes Angebot für einen Wohnplatz. Da die offizielle Eröffnung der IWG bereits für März/April angedacht war, sollten wir uns zeitnah noch im Januar entscheiden, ob wir den Wohnplatz auch annehmen möchten. Das Gefühlsdurcheinander, ausgelöst durch die so plötzlich anstehende, tiefgreifende Entscheidung, lässt sich für uns als sorge- und erziehungsberechtigte Eltern nur schwer in Worte fassen. Zwar hatte unsere Tochter (und damit auch wir) bereits Erfahrungen im Schulinternat gesammelt. Gerade deshalb war es für uns aber umso schöner, sie endlich wieder regelmäßig im Haus zu wissen, für familiäre Unternehmungen und Freude an der gemeinsamen Lebenszeit.
Denn uns allen wurde bewusst: Der „Einzug“ in eine IWG würde der Beginn eines völlig neuen Lebensabschnitts für uns als Familie sein. Und noch etwas kam hinzu: Wir hatten unserer Tochter kurz vorher hoch und heilig versprochen, dass sie so schnell nicht ausziehen müsse und dass sie mindestens bis zum Abschluss ihrer Berufsbildungsmaßnahme, die zu diesem Zeitpunkt noch ein Jahr dauern sollte, zu Hause wohnen bleiben dürfe.
Bloß nicht zu viele Veränderungen auf einmal!
Mit dem Einzug in eine IWG würden wir unsere Tochter an ihre Belastungsgrenze bringen:
Auszug von den Eltern, Einzug in eine neue Umgebung mit fremden Menschen weg von der Familie, extern anstehende Praktika mit vielen neuen Eindrücken und in ungewohnter Umgebung, allmählich erste Vorbereitungen auf die Prüfung der Qualifizierungsmaßnahme. Wer konnte denn ahnen, dass genau das Gegenteil unseres Versprechens schon wenige Tage danach eintreten würde?
Wir Eltern wussten theoretisch nur zu genau, dass es bei diesem großartigen Angebot nichts mehr zu überlegen gab.
Trotzdem haderten wir.
Keiner von uns war zu diesem Zeitpunkt emotional ausreichend auf diese neue Lebensphase vorbereitet. Zu viele Fragen blieben fürs Erste ungeklärt und auch das elterliche Gefühlschaos ließ sich nur schwer kontrollieren. Zum Glück konnten wir uns mit unseren Sorgen und Gedanken stets an die erfahrenen Fachkräfte der Lebenshilfe wenden. Sie schenkten uns in der Entscheidungsphase ihre wertvolle Zeit und stets ein offenes Ohr. Besonders dankbar sind wir für die persönlichen Gespräche vor Ort, für die sich die Mitarbeiter*innen der Lebenshilfe ausreichend Zeit nahmen.
Es tat einfach gut, dass jemand zuhörte, der sich mit den Eltern-Nöten aus Erfahrung bestens auskannte. Für jedes noch so kleine (und für uns vermeintlich unlösbare) Alltagsdetail wusste man eine pragmatische Lösung im nahenden IWG-Alltag. Durch diese verständnisvollen Gespräche lichteten sich allmählich unsere Gedankenwolken. Der Weg für eine klare und richtige Entscheidung war damit frei.
„Wie sag ich´s meinem Kinde?“
Die Wochen vor dem Einzug in die IWG waren für unsere Familie eine aufregende, aber auch kräftezehrende und hochemotionale Zeit.
Unsere Tochter machte es uns zudem nicht leicht, sie negierte das Thema, wann immer wir es ansprachen. Ihre anfängliche Freude wich schlagartig einer großen Angst, die sie kaum zu bändigen wusste. Sie betonte wiederholt, auf keinen Fall in die IWG einzuziehen. Sie wolle doch für immer bei ihren Eltern wohnen bleiben. Es gab bittere Tränen auf beiden Seiten.
Die Zeit raste dahin und bis zum Einzug blieben nur noch 4 Wochen. Wir wollten unserer Tochter ein gemütliches Zimmer einrichten, das auch den optischen Ansprüchen Lebensumständen einer jungen Dame gerecht wird. Für uns als berufstätige Eltern bedeutete das einen enormen zeitlichen Spagat. Zum einen die tägliche Herausforderung unserer Jobs mit Verantwortung, zum anderen die notwendigen Korrespondenzen mit dem Bezirk Oberbayern, der Pflegekasse und weiteren involvierten Personen und Institutionen. Die stundenlange Online-Recherche nach Möbeln und Einrichtungsgegenständen, gefolgt von allabendlichen Besuchen in Möbelhäusern kurz vor Ladenschluss, fraßen Zeit und Nerven.
Tägliche Pendelfahrten zwischen der IWG und unserer Heimat am anderen Ende der Stadt haben unsere physischen Kräfte schnell erschöpft.
Wieder einmal fuhr ich nach einem sehr langen Tag zu später Stunde kurz vor Mitternacht von der IWG nach Hause.
Die Autobahn war frei, es regnete jedoch in Strömen, 40 Minuten Autofahrt lagen vor mir. Eine bleierne Müdigkeit überkam mich schon kurz nach Beginn meiner Heimfahrt.
Während der gesamten Fahrt kämpfte ich dagegen an, nicht unkontrolliert am Steuer in den gefürchteten Sekunden-Schlaf zu fallen.
Immer noch danke ich meinem Schutzengel dafür, dass ich wohlbehalten zu Hause ankommen durfte. Mir wurde bewusst, dass meine physischen und psychischen Ressourcen längst aufgezehrt waren.
Tag des Einzugs
Das Thema Wohnplatz in einer IWG war innerhalb unserer Familie nun omnipräsent. Und trotzdem realisierte es unsere Tochter erst kurz vor dem offiziellen Einzugstermin, dass sie nun bald in ein eigenes Heim ziehen würde. „Ihr wollt mich loswerden“, weinte sie, „ihr habt mir versprochen, dass ich noch nicht ausziehen muss, das habt ihr gebrochen“. Da war es also wieder: Unser ohnehin schlechtes elterliches Gewissen, gepaart mit dem reinen Vernunftsgedanken, dass dies eine besondere Chance sein würde, an der wir alle gemeinsam wachsen.
Die Nervosität stieg, als der Tag des Einzugs unaufhaltsam näher rückte. Unsere Tochter war der letzte Neuankömmling in der IWG, alle anderen Bewohner und Studenten hatten ihre Zimmer vor Kurzem bereits bezogen. Es kam der Moment, vor dem uns am meisten graute und den wir in Gedanken schon 1000-male durchdacht hatten: Wie wird unsere Tochter den Abschied von ihren Eltern und die erste Nacht in ihrer neuen Wohnung überstehen? Wir wussten, dass nun ein ganz neuer Lebensabschnitt für alle beginnen würde. Für jemanden, der meist im Moment lebt, ist dies nicht leicht zu akzeptieren. Unsere Tochter ist so jemand.
Der Tag des Einzugs verging wie im Flug. Gerade als wir aufbrechen wollten, fiel uns unsere Tochter noch im Flur um dem Hals und zog alle Register, die ein Elternherz butterweich werden lassen. Ihr Flehen und Bitten, dass sie nicht hierhergehöre, nicht hier zu Hause sei, hier niemanden kennen würde, ihr Schluchzen und Weinen…all das war für uns nur schwer zu ertragen. DER MOMENT war da, aber so konnten wir sie nicht zurücklassen. Also blieben wir noch etwas und gingen mit unserer Tochter in die Gemeinschaftsküche.
Was dort geschah, werden wir Eltern (und wahrscheinlich auch unsere Tochter) nie vergessen, es war etwas besonders Herzergreifendes: Zwei der neuen Bewohner saßen in der Küche noch beisammen. Wahrscheinlich konnten sie wegen Heimweh auch noch nicht schlafen trotz vorgerückter Stunde. Sie zeigten sich beide sofort empathisch und erzählten ihrerseits vom Tag des Einzugs vor wenigen Tagen und vom schweren Abschied von den Eltern. Keiner belächelte die Situation, denn sie saßen alle im selben Boot. Die tröstenden und mitfühlenden Worte ihrer neuen Mitbewohner halfen unserer Tochter sehr. Daraufhin konnte sie uns endlich nach Hause gehen lassen und auch wir traten einigermaßen erleichtert und voller Stolz auf unser erwachsenes Kind den Heimweg an.
IWG-Alltag:
Die gute Nachricht möchte ich Ihnen als Leser*in nicht mehr länger vorenthalten: Unsere Tochter ist in „ihrer“ neuen IWG schnell angekommen und sie fühlt sich sehr wohl. Dazu haben alle Beteiligten (Bewohner/Student*innen und Fachkräfte) einen entscheidenden Beitrag geleistet, obwohl aller Anfang – in diesem Fall für alle gleichzeitig – bekanntlich nicht immer leicht ist. Ihr Leben wird immer selbstbestimmter und es motiviert sie jedes Mal aufs Neue, dass sie selbst darüber entscheiden kann, wann sie in der IWG bleiben oder bei uns übernachten will. Darauf legt sie inzwischen großen Wert und ist zurecht stolz auf ihre zunehmende Unabhängigkeit.
Auch für uns Eltern bedeutet der vollzogene, gelungene Einzug in die IWG mit Blick in die Zukunft eine große Sorge weniger: Sollten wir eines Tages nicht mehr umfänglich für unsere Tochter sorgen können, wissen wir sie bei der Lebenshilfe schon jetzt in guten Händen.